Die Kunst des Fragens: Wie eine einfache Frage Türen zu verborgenen Welten öffnet (1. Teil)
- Uwe Holzhausen
- 16. Sept.
- 8 Min. Lesezeit

Ein Schlüssel für das passende Schloss
Stell dir vor, du stehst vor einer verschlossenen Tür in deinem eigenen Haus – eine Tür, die du dein ganzes Leben lang ignoriert hast. Du drehst den Knauf, und statt eines Schlüssels findest du eine Frage: „Was, wenn dahinter etwas Wunderschönes wartet?“ Plötzlich quietscht die Tür auf, und Licht flutet herein. Das ist die Magie der Fragetechniken in Coaching, Beratung und Therapie. In meiner Ausbildung zum psychosozialen Berater konnte ich immer wieder erleben, wie eine gut gewählte Frage nicht nur Antworten hervorruft, sondern ganze Perspektiven umkrempelt. Sie ist wie ein sanfter Windhauch, der alte Blätter wegweht und frischen Boden freigibt.
Daher tauchen wir Heute ein in die weite und komplexe Welt der Fragetechniken ein – eine Welt unendlicher Möglichkeiten und unvorhergesehener Chancen, die zum Perspektivwechsel führen und Dinge offen legen können, die Vorher im Schatten der Verborgenheit blieben. Beginnen werde ich mit der systemischender Fragetechnik, die für mich eine der faszinierendsten Techniken überhaupt ist. Sie ist tief verwurzelt in der Systemtheorie und Kybernetik, doch dazu kommen wir später. Lass uns gemeinsam erkunden, woher sie stammen, warum sie so mächtig sind und wie sie dein Leben bereichern können.
Die Wurzeln: Von alten Denkern zu klugen Systemen
Fragen sind so alt wie die Philosophie. Sokrates, der alte Grieche, war ein Meister darin. Mit seiner „Hebammenkunst“ hat er nicht belehrt, sondern Menschen geholfen, ihr eigenes Wissen zu finden. In meiner Praxis fühle ich mich manchmal wie er: Ich stelle eine Frage, und der Klient entdeckt etwas Neues in sich. Später hat Kant gesagt, dass wir durch Fragen die Welt nicht nur sehen, sondern gestalten. Freud hat das weitergedacht, mit Fragen, die in die Tiefen der Seele tauchen und verborgene Geschichten ans Licht bringen.
Systemische Fragen haben eine jüngere Geschichte, die in den 1950er Jahren in Palo Alto, Kalifornien, beginnt. Dort hat die Gruppe um Gregory Bateson die Kybernetik – die Wissenschaft von Steuerung, Rückkopplung und Kreisläufen – auf Beziehungen angewendet. Kybernetik erster Ordnung schaut auf Systeme wie auf Maschinen: Sie analysiert, wie Teile (z. B. Menschen in einer Familie) sich gegenseitig beeinflussen, ohne den Beobachter zu berücksichtigen. Probleme entstehen nicht isoliert, sondern durch diese Rückkopplungen – wie ein Thermostat, das die Temperatur reguliert, aber aus dem Gleichgewicht gerät. Paul Watzlawick hat das prägnante Zitat formuliert, das fast ein jeder von uns kennt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Jede Frage ist eine Intervention, die das System in Bewegung setzt, ohne es zu zerlegen.
Kybernetik zweiter Ordnung geht einen Schritt weiter und macht den Beobachter zum Spieler: Ich als Berater bin nicht neutral, meine Fragen verändern das System, und das System verändert mich. Es geht um Selbstreflexion und Lernen aus dem Kreislauf – wie ein Lenker, der merkt, dass sein Eingreifen den Weg verändert. Das hat alles mit der Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy zu tun, der in den 1920er Jahren sagte: "Systeme sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie sind offen, selbstorganisierend und voller emergenter Eigenschaften – Veränderung entsteht nicht linear, sondern durch Netzwerke von Einflüssen." In systemischen Fragen spiegelt sich das: Sie zoomen heraus, zeigen Kontexte und laden ein, die Welt neu zu sehen, statt Ursachen zu jagen.
In den 1970er Jahren hat die Mailänder Schule, mit Leuten wie Mara Selvini Palazzoli, diese Ideen in zirkuläre Fragen gegossen. Statt „Wer hat Schuld?“ fragten sie: „Wie sieht das der andere?“ – wie ein Spiegel, der neue Blickwinkel zeigt, inspiriert von der Kybernetik, die Kreisläufe sichtbar macht. In den 1980er Jahren kam der Konstruktivismus dazu, mit Denkern wie Ernst von Glasersfeld, die sagten: Wir bauen unsere Realität selbst, und Fragen können diese Konstruktionen verschieben – ein Echo der zweiten Ordnung, wo der Beobachter die Realität mitgestaltet. Hypothetische Fragen wie „Was, wenn das Problem weg wäre?“ wurden populär. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben das in die lösungsfokussierte Therapie eingebaut, wo Fragen nicht Probleme, sondern Möglichkeiten beleuchten. In meiner Arbeit fühlen sich diese Fragen an wie ein leiser Hinweis: „Schau mal, da drüben ist ein Weg.“ Die Systemtheorie erinnert uns: Jede Veränderung ist ein Tanz von Teilen, die zusammen ein Ganzes formen.

Im Alltag der Beratung: Wie Fragen wirken
Stell dir vor wir haben eine Beratung und wir reden über einen Streit in deiner Familie. Anstatt „Warum streitet ihr?“ (was oft wie ein Vorwurf klingt), frage ich zirkulär: „Wie glaubst du denken deine Mutter und dein Vater, wenn du und deine Schwester streitet?“ Plötzlich passiert etwas – du hälst inne, denkst nach und erkennst dein eigenes Muster, ohne dich sofort attackiert zu fühlen.
Systemische Fragen sind wie Fenster, die frische Luft reinlassen. Sie nutzen die Kybernetik erster Ordnung, um Beziehungsmuster sichtbar zu machen, und die zweite Ordnung, um meine Rolle als Fragender mitzudenken: Wie verändert meine Frage das Gespräch?
Sie sind keine Zaubertricks, sondern Werkzeuge, die den Klienten helfen, seine eigenen Lösungen zu finden, indem sie das Netzwerk ihrer Beziehungen und Gedanken beleuchten. Ich liebe es, mit diesen Fragen zu arbeiten, weil sie so vielseitig sind. Hier sind die fünf wichtigsten Typen systemischer Fragen, strukturiert nach ihrer Funktion, mit praktischen Beispielen und Anleitungen, wie du sie im Alltag, Beruf oder in Beziehungen selbst nutzen kannst, um voranzukommen:
1. Zirkuläre Fragen
Funktion: Drehen den Blick auf Beziehungen und Wechselwirkungen, inspiriert von der Kybernetik erster Ordnung, die Kreisläufe sichtbar macht. Sie fördern Empathie und Perspektivwechsel, ohne anzuklagen.
Beispiel in der Beratung: „Wie denkt deine Kollegin, dass du dich in Meetings fühlst?“
Wirkung: Öffnet neue Sichtweisen, klärt Missverständnisse und entschärft Konflikte, indem sie Beziehungsdynamiken beleuchten.
Im Alltag nutzen:
Im Beruf: Frage dich vor einem Gespräch: „Wie denkt mein Chef, dass ich mit seiner Kritik umgehe?“ Das hilft, die Perspektive des anderen zu verstehen. Beispiel: Wenn du Feedback als Angriff empfinden, frage dich: „Wie sieht mein Kollege meine Reaktion auf seine Vorschläge?“ Das könnte dich dazu bringen, proaktiv ein klärendes Gespräch zu suchen, z. B. „Ich merke, ich reagiere manchmal defensiv – wie wirkt das auf dich?“
In Beziehungen: Frage dich: „Wie sieht mein Partner, was mich gerade stresst?“ Das kann Streit entschärfen. Beispiel: Statt zu schweigen, sagst du: „Ich bin gestresst und still – wie wirkt das auf dich?“ Das öffnet ein Gespräch, ohne Vorwürfe.
Im Alltag: Mit Freunden hilft: „Wie denkt meine Freundin, dass ich mit ihrer Absage umgehe?“ Das kann Missverständnisse klären, z. B. indem du anrufst und sagst: „Ich war enttäuscht, als du abgesagt hast – wie hast du das empfunden?“
2. Hypothetische Fragen
Funktion: Öffnen den Möglichkeitsraum und wecken Fantasie, passend zur Systemtheorie, die von emergenten Möglichkeiten spricht. Sie geben Hoffnung und zeigen, dass Veränderung möglich ist.
Beispiel in der Beratung: „Wenn dein Problem morgen weg wäre, was machst du dann?“
Wirkung: Fördert kreatives Denken, inspiriert neue Handlungswege und hilft, aus festgefahrenen Mustern auszubrechen.
Im Alltag nutzen:
Im Beruf: Frage dich bei Überforderung: „Wenn ich morgen entspannt an diese Aufgabe gehe, wie würde ich starten?“ Vielleicht erkennst du, dass du mit einem Plan oder einer Pause beginnen würdest – setze das um, z. B. mit 10 Minuten Notizen machen.
In Beziehungen: Frage dich: „Wenn wir morgen harmonisch wären, wie würde unser Abend aussehen?“ Das könnte dich inspirieren, einen ruhigen Spaziergang vorzuschlagen oder ein offenes Gespräch zu starten: „Lass uns heute Abend wie früher reden – wie klingt das?“
Im Alltag: Frage dich: „Wenn ich morgen voller Energie wäre, was würde ich tun?“ Das könnte dich dazu bringen, eine alte Leidenschaft wie Sport oder Lesen wieder aufzunehmen, z. B. mit einem kurzen Spaziergang oder 15 Minuten mit einem Buch.
3. Reflexive Fragen
Funktion: Laden zur Selbstreflexion ein, inspiriert von der Kybernetik zweiter Ordnung: Sie beobachten sich selbst durch die Frage. Sie helfen, Werte und Stärken zu erkennen, ohne Druck.
Beispiel in der Beratung: „Was sagt es über dich, dass du gerade diese Geschichte erzählst?“
Wirkung: Fördert Selbstbewusstsein, klärt innere Motive und stärkt die Verbindung zu den eigenen Ressourcen.
Im Alltag nutzen:
Im Beruf: Nach einer schwierigen Entscheidung frage dich: „Was zeigt es über mich, dass ich diesen Weg gewählt habe?“ Vielleicht siehst du deine Priorität für Fairness, was dich ermutigt, deine Entscheidung klarer zu kommunizieren, z. B. in einem Team-Meeting: „Ich habe das so entschieden, weil mir Gerechtigkeit wichtig ist – wie seht ihr das?“
In Beziehungen: Frage dich: „Was verrät es über meine Liebe, dass ich diese Geste gemacht habe?“ Das hilft, Absichten zu reflektieren. Beispiel: Wenn du deinem/r Partner/in geholfen hast, frage dich: „Was sagt das über meine Fürsorge?“ – und sprich es an: „Ich habe dir geholfen, weil mir das wichtig ist.“
Im Alltag: Frage dich: „Was sagt es über mich, dass ich heute so reagiert habe?“ Das hilft, Emotionen zu verstehen. Wenn du gereizt warst, könnte es dich dazu bringen, eine Pause einzulegen oder eine Entspannungsübung zu machen, z. B. fünf Minuten tief zu atmen.
4. Differenzierende Fragen
Funktion: Suchen Nuancen und kleine Erfolge, passend zur Idee der Selbstorganisation in der Systemtheorie. Sie heben Momente hervor, die man übersieht, und zeigen, wo Veränderung keimt.
Beispiel in der Beratung: „Wann war das Problem gestern weniger schlimm?“
Wirkung: Macht Fortschritte sichtbar, stärkt Zuversicht und inspiriert, auf bestehenden Erfolgen aufzubauen.
Im Alltag nutzen:
Im Beruf: Frage dich: „Wann lief die Zusammenarbeit mit meinem Kollegen besser?“ Vielleicht erinnerst du dich an ein lockeres Gespräch – das könnte dich dazu bringen, öfter informell zu plaudern, z. B. bei einem Kaffee: „Hey, lass uns kurz über das Projekt reden – wie damals.“
In Beziehungen: Frage dich: „Wann fühlte sich unser Gespräch leichter?“ Das könnte dich inspirieren, eine ähnliche Situation nachzustellen, z. B. ein Gespräch beim Abendessen statt im Stress. Sage: „Lass uns heute wie letztens beim Essen reden – das war schön.“
Im Alltag: Frage dich: „Wann war ich heute ein bisschen entspannter?“ Das hilft, kleine Gewohnheiten zu verstärken, z. B. 10 Minuten Musik hören oder einen Spaziergang machen, um die Stimmung zu heben.
5. Kontextuelle Fragen
Funktion: Zoomen auf größere Zusammenhänge, inspiriert von Bertalanffys Ganzheitlichkeit. Sie beleuchten äußere Einflüsse wie Kultur oder Strukturen.
Beispiel in der Beratung: „Wie beeinflusst die Firmenkultur deine Entscheidungen?“
Wirkung: Hilft, externe Druckquellen zu erkennen und Handlungsspielraum zu schaffen, besonders in komplexen Systemen.
Im Alltag nutzen:
Im Beruf: Frage dich: „Wie wirken die Erwartungen meines Teams auf meine Arbeit?“ Das könnte dichdazu bringen, klare Grenzen zu setzen, z. B. Überstunden reduzieren oder delegieren: „Ich übernehme nur, was machbar ist – wie klingt das?“
In Beziehungen: Frage duch: „Wie beeinflussen unsere Freunde, wie wir streiten?“ Das kann helfen, Gespräche ohne äußeren Druck zu führen, z. B. in einer ruhigen Umgebung: „Lass uns allein reden, ohne dass andere mitmischen.“
Im Alltag: Frage dich: „Wie wirkt mein Umfeld auf meine Stimmung?“ Das könnte dich dazu anregen, Ihren Raum bewusster zu gestalten, z. B. mit Pflanzen, weniger Bildschirmzeit oder einem aufgeräumten Schreibtisch.
Diese Fragen sind unglaublich vielseitig: Sie funktionieren in der Paartherapie, im Coaching, in der Familienberatung oder in Unternehmen. Aber sie sind kein Allheilmittel. Ethisch gesehen versuche ich beim stellen der Fragen achtsam zu sein:" Stärken sie den Klienten, oder lenken sie ihn?" Doch die Kybernetik zweiter Ordnung erinnert mich: Meine Fragen sind Teil des Systems, sie verändern es. Ich achte immer auf Neutralität und darauf, dass sich jeder gehört fühlt, egal woher er kommt oder was er mitbringt.
Warum es sich lohnt: Fragen, die bewegen
Systemische Fragen sind mehr als eine Technik – sie sind eine Art, die Welt zu sehen, inspiriert von Systemtheorie und Kybernetik. Die Systemtheorie zeigt: Wir sind Teil eines Netzwerks, wo jede Handlung Wellen schlägt - wie ein Schmetterling der mit seinem Flügelschlag einen Tsunami auslösen kann. Selbstorganisation bedeutet, dass Veränderung aus dem Inneren kommt, nicht von außen. Kybernetik erster Ordnung hilft, Muster zu verstehen; die zweite Ordnung lädt uns ein, uns selbst zu beobachten und flexibel zu bleiben. Sie respektieren, dass jeder seine eigene Weisheit hat. Sie zeigen, dass alles vernetzt ist, und jede Rückkopplung – ein Blick, ein Wort – kann etwas verändern. Unsere Welt liebt schnelle Lösungen, doch stattdessen sollten wir sagen:
„Halt inne, hör zu, denk nach.“ Ich habe Menschen gesehen, die nach einer Frage leuchteten, weil sie plötzlich einen Ausweg sahen. Fragen sind wie kleine Wellen in einem Teich – sie breiten sich aus und verändern alles.
Probiere es aus: Frage dich heute etwas Zirkuläres. „Wie sieht mein Partner, was mich gerade stresst?“ Du wirst überrascht sein, wie sich dein Blick öffnet. Fragen sind ein Tanz – neugierig, einfühlsam, lebendig. Egal, ob du in der Beratung bist oder einfach neugierig auf dich selbst: Diese Fragen können Türen öffnen, die du nie gesehen hast.
Im 2. Teil meines Blogbeitrages tauchen wir in die Wunderfrage ein – eine besondere Technik, die wie ein magischer Schlüssel wirkt, um große Visionen und kleine Schritte zu verbinden. Sie fragen sich: „Was, wenn ein Wunder passiert und alles besser ist?“
Also: Welche Frage bewegt dich gerade?
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